Poesie verletzter Seelen trifft auf harten Rhythmus somalischer Wirklichkeit

»Der Garten der verlorenen Seelen« von Nadifa Mohamed
ist das Buch für die Stadt 2020

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Was die Eltern aus Somalia erzählen
Nadifa Mohameds »Der Garten der verlorenen Seelen«

ist das Buch für die Stadt und die Region 2020


von Frank Olbert

Somalia gilt als einer jener Staaten dieser Erde, die diesen Namen im Grunde nicht verdienen – ein “failed state”. Schlimmer geht es nur im Jemen zu, Clans und Warlords reißen die Macht an sich, es herrscht Krieg im Inneren wie gegen äußere Feinde, von den Institutionen wie Polizei, Gerichtsbarkeit oder Militär kann sich die Bevölkerung keinen Schutz erhoffen: Im Gegenteil, wie bereits der Beginn von Nadifa Mohameds Roman »Der Garten der verlorenen Seelen« zeigt. Dort müssen die Einwohner der Stadt Hargeisa frühmorgens im Stadion antreten, um dem Diktator zu huldigen. Als die greise Kawsar dabei das Mädchen Deqo vor der Willkür der Soldaten in Schutz nimmt, wird sie selbst durch die ehrgeizige Offizierin Filsan schwer verletzt. Das Leben in Hargeisa ist lebensgefährlich, jeden Tag.

Kawsar, Deqo, Filsan – fast wie mit fliegenden Filmschnitten lässt Nadifa Mohamed zum temporeichen Auftakt ihres Romans die drei weiblichen Hauptfiguren und damit auch drei Generationen aufeinanderprallen. Es ist eine Begegnung wie ein folgenschwerer Unfall, und auch, wenn sich im Mittelteil des Buches ihre Geschichten in ihre jeweils eigene Umlaufbahn begeben, so führt die Autorin sie zum Ende hin wieder zusammen. Jede für sich, auf schicksalhafte Weise miteinander verknüpft, so gestaltet sich dieses zugleich anonyme und intime Netz, dieses beziehungslose Beziehungsgeflecht unterm Terror.

Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, vor was und wem die Menschen die Flucht ergreifen, die sich über gefährliche Landrouten und das Meer nach Europa retten wollen, der sollte Nadifa Mohameds »Der Garten der verlorenen Seelen« lesen.

Der Roman spielt am Ende der 80er Jahre, während der letzten Zuckungen des Regimes des Siad Barre, das 1991 endgültig gestürzt wurde. Zu dieser Zeit lebte die 1981 geborene Nadifa Mohamed bereits mit ihrer Familie in London – das Erbe Somalias wirkte vor allem in den Geschichten fort, die ihre Mutter Zahra Farah Kahin und ihr Vater Jama Guure Mohamed erzählten. Auf diese Berichte bezieht sie sich in einer Danksagung am Ende ihres Buches ausführlich, wie auf historische und zeitpolitische Schriften wie “Somalia – the Untold Story: War through the eyes of Somali women”. Eine Frauengeschichte hat auch Nadifa Mohamed mit »Der Garten der verlorenen Seelen« geschrieben, und auch die Tatsache, dass sie als Rohmaterial für ihren Roman Tatsachenberichte und Geschichtsbücher benutzte, schlägt sich in ihrem Schreiben nieder: Es schlägt einen ganz eigenen Ton an, in dem sich die gelegentliche Poesie verletzter Seelen mit dem harten Rhythmus der somalischen Wirklichkeit vermischt – bis hin zu vereinzelten historischen Exkursen etwa zum Ogadenkrieg, den sich Somalia und das benachbarte Äthiopien lieferten.

»Der Garten der verlorenen Seelen« verzaubert dementsprechend weniger durch literarisch-stilistische Ambition; Nadifa Mohamed zwingt die Leser vielmehr in eine raue, manchmal regelrecht schmerzhafte Geschichte über Zustände hinein, auf die man endlich den Blick lenken sollte. Die Empörung der Autorin über die Zustände in ihrer fremden Heimat scheint als moralisch gefärbter Schreibantrieb jederzeit durch – und verleiht dem Buch gerade dadurch Kraft und Wahrhaftigkeit.

Kawsar, die verletzte, ans Krankenbett gefesselte Frau am Ende ihres Lebens, die von den Freundinnen verlassen wird, weil die vor dem Bürgerkrieg fliehen; Deqo, das Mädchen, das seinen Unterschlupf in einer Regentonne für eine Weile mit dem selbstbewussten Frauenhaushalt einiger Prostituierter tauscht; Filsan schließlich, der psychologisch dichteste Charakter in Mohameds Geschichte, weil sich die Brutalität ihres Offiziersvaters in der eigenen Biografie fortsetzt, allerdings mit Skrupeln, Zweifeln und spezifisch weiblichen, nämlich Missbrauchserfahrungen in der Armee mischt – das ist das ungleiche Trio, das sich vor einer zunehmend apokalyptischen Szenerie zu einer Überlebenseinheit zusammenfindet. Dabei romantisiert Mohamed nichts. Dafür ist ihr Blick zu aufgeklärt.

BUCH FÜR DIE STADT

Nadifa Mohameds “Der Garten der verlorenen Seelen” ist das “Buch für die Stadt” 2020. Dies ist eine gemeinsame Literaturaktion von Literaturhaus Köln und “Kölner Stadt-Anzeiger” in Kooperation mit „stimmen afrikas“. Die Jury bildeten Bettina Fischer (Literaturhaus Köln), Hildegund Laaff (Lengfeld’sche Buchhandlung), Martin Oehlen (Literaturblog “Bücher-Atlas”) und Frank Olbert (“Kölner Stadt-Anzeiger”).

Die Sonderausgabe des Romans ist im Verlag C.H. Beck erschienen. Im November wird es eine Aktionswoche geben, die vom 15. bis zum 22.11. in Köln und der gesamten Region läuft.

Matinee zum Buch für die Stadt - »Der Garten der verlorenen Seelen« von Nadifa Mohamed

So 15.11.2020 – 11:00 Uhr
Depot 1

Bezüglich der Rückerstattung Ihres erworbenen Tickets für die Matinee am 15.11.2020, wenden Sie sich bitte direkt an das Schauspielhaus.

Kontaktdaten: Telefon 0221 – 221 28400 / Telefax 0221 – 221 28249 / E-Mail: tickets@buehnen.koeln

Der Roman

Drei Frauen, deren Schicksal unwiderruflich miteinander verknüpft ist, die Feindinnen werden könnten und am Ende ein prekäres Bündnis des Überlebens schließen.

In ihrem Roman »Der Garten der verlorenen Seelen« erzählt die junge britische Autorin Nadifa Mohamed eine Geschichte aus Somalia Ende der Achtzigerjahre, einem Land kurz vor dem Bürgerkrieg. Innig, offen, voll Schönheit und gelegentlich wilder Liebe erzählt sie von gewöhnlichen Leben in außergewöhnlichen Zeiten.

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