„Die Wahrheit ist Verhandlungssache“
Claudia Schumachers starkes Debüt
über häusliche Gewalt ist das
„Buch für die Stadt“ 2025.

Kölner Literaturaktion: Wir stellen das Buch für die Stadt 2025 vor

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Die Wahrheit ist Verhandlungssache

Claudia Schumachers eindrucksvolles Debüt über die Folgen häuslicher Gewalt ist das „Buch für die Stadt“ 2025


von Anne Burgmer

Nach außen sind die Ehres eine Bilderbuchfamilie. Die Eltern arbeiten erfolgreich als Anwälte, leben in einem großen Haus in einem gut situierten Vorort von Stuttgart. Ihre vier Kinder sind wohlgeraten. Und die 17 Jahre alte Juli ist davon überzeugt, dass es an ihr liegt, dieses Bild aufrechtzuerhalten. Wenn sie erfolgreich ist, alle Erwartungen erfüllt, schlicht perfekt ist, kann sie das Monster, das sie alle bedroht, davon abhalten, aus der Haut zu fahren. Doch es ist ein aussichtsloses Unterfangen, denn das Monster ist ihr Vater.

Hinter der Fassade der ehrenwerten Familie lauern Abgründe. Kurt Ehre ist ein brutaler Tyrann, der seine Frau und die zwei Söhne und zwei Töchter regelmäßig verprügelt. Wann er zuschlägt, lässt sich nicht vorhersagen, oft kommt die blinde Wut aus dem Nichts. Und so leben alle in ständiger Angst: „Daheim penne ich eigentlich selten länger als vier Stunden am Stück. Papa hat die Zimmerschlüssel im Haus kassiert. Weshalb ich immer damit rechne, dass er nachts wieder vor meinem Bett aufkreuzt wegen irgendso’nem Scheiß. Ich habe vergessen, die Spülmaschine auszuräumen, oder mein Fahrrad draußen gelassen. Dafür gibt’s dann in die Fresse.“

Häusliche Gewalt findet sehr oft im Verborgenen statt. Viele Opfer fühlen sich hilflos und alleingelassen. Dabei ist der Handlungsbedarf groß. Während der Corona-Pandemie verzeichnete etwa das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ einen Anstieg von Anrufen. Es ist ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz, das Claudia Schumacher aufgreift. In einem rauen, fast schon rotzigen Ton, dem man sich nur schwer entziehen kann, lässt sie ihre Ich-Erzählerin in ihrem Debüt „Liebe ist gewaltig“ sprechen. Das klingt nie aufgesetzt, vielmehr brechen Wut und Ohnmacht sich in dieser schnoddrigen Sprache Bahn. Ein atemloser Roman, der aufrüttelt und nachdenklich macht und deshalb in diesem Jahr das „Buch für die Stadt“ ist.

Jedes Familienmitglied wählt einen anderen Weg, um mit den Gewaltausbrüchen, die Schumacher an einigen Stellen sehr drastisch, aber nie voyeuristisch schildert, fertig zu werden. Julis ältere Schwester Alex zieht aus, sobald sich die Gelegenheit bietet. Max entscheidet sich für größtmögliche Anpassung und spielt das Spiel der scheinbar perfekten Familie mit, lässt sich sogar zum Bürgermeister wählen, der die Kontakte des Vaters bereitwillig nutzt. Die beiden Jüngsten, Bruno und Juli, tun alles, um sich gegenseitig Halt zu geben. Wenn die Angst zu groß ist, klettert Juli zu ihm ins Bett, nur an seiner Seite kann sie ruhig schlafen.
Eine besonders tragische Rolle spielt die Mutter. Sie lächelt die Misshandlungen weg – ihre eigenen und die der Kinder. Auch im Sommer trägt sie Rollenkragenpullover, um die blauen Flecken zu verbergen. Für exzentrisch darf man sie gerne halten, wenn nur nichts nach außen dringt von den Gewaltexzessen. Gesprochen wird nie über die furchtbaren Erlebnisse. Und wenn ein Blutfleck auf dem Teppich ein stummes Zeugnis der Brutalität ist, wird er eben umgedeutet. Das sei doch kein Blut, da habe Juli sich übergeben, behauptet sie. „Jeder erzählt eine andere Geschichte über dieselben Dinge. Die Wahrheit, das ist reine Verhandlungssache.“

Wenn die Verletzungen so schlimm sind, dass nur noch ein Arzt helfen kann, geht man eben zum Bruder des Vaters, der flickt die Wunden zusammen. Unkommentiert. Ihre Kinder überschüttet die Mutter hinterher mit Liebe und Geschenken. Ansonsten ist sie eine Meisterin der Verdrängung. Als Juli einmal mit ihr an einem Frauenhaus vorbeigeht, reagiert die Mutter herablassend: „Schrecklich, sagte sie melodramatisch, ich habe solche Frauen ja auch manchmal bei mir in der Kanzlei.“ Als hätte all das mit ihrer eigenen Situation überhaupt nichts zu tun.

Ich-Erzählerin Juli berichtet ohne Larmoyanz von ihrem Leben, hinter ihrer oft schnoddrigen Art verbirgt sich jedoch eine in jeder Hinsicht verletzte Jugendliche, deren Urvertrauen auf die brutalstmögliche Art zerstört wurde. Sie verabscheut ihren Vater und sehnt sich doch nach seiner Anerkennung. Sie ist hochintelligent, traut sich aber nichts zu.

Wir begegnen ihr an drei Zeitpunkten ihres Lebens. Im ersten Teil, der 2007 spielt, ist sie 17 Jahre alt und lebt noch bei ihren Eltern. Wegen ihres auffälligen Verhaltens ist sie zu Beginn in einer Reha-Klinik. Doch weil sie nicht offen darüber spricht, was sie aus dem Gleichgewicht bringt, gilt sie dort als renitente, verwöhnte Göre – und fliegt irgendwann raus. Es ist schwer zu ertragen, dass die Mauern des Schweigens, die Familie Ehre um sich herum errichtet hat, von keinem Familienmitglied durchbrochen werden. Juli will kein Opfer sein, will kein Mitleid. Und verbaut sich doch genau durch diese Haltung die Chance darauf, auszubrechen aus dem Wahnsinn, der sie zerfrisst.

Im zweiten Teil, der 2014 spielt, lebt sie als Studentin in Berlin, verdient viel Geld als Profi-Gamerin und arbeitet an ihrer Promotion in Mathematik. Aber weil wir vor uns selbst nicht davonlaufen können, hat sie ihre Traumata immer dabei und zerstört letztlich alles, was ihr helfen könnte, genau diese zu überwinden. Die Beziehung zur Engländerin Sanyu, in die Juli so verliebt ist, wie noch nie zuvor, zerbricht irgendwann: „Ich bin Jules, das schwarze Loch, das sich selbst frisst. Ich wünschte, ich wäre jemand, den du lieben kannst.“

Beim Lesen schließt man diese junge Frau direkt ins Herz. Auch wenn man sie oft schütteln möchte, sie davor bewahren will, wieder einmal nichts als verbrannte Erde zu hinterlassen. „Man kann mir nicht trauen. Denn ein verwundetes Herz ist auch ein verwundeter Geist.“ Dieses Zitat von Louise Glück hat Schumacher ihrem Roman vorangestellt. Und das trifft es sehr gut. Die Journalistin hat in ihrem bewundernswert souverän komponierten Erstling eine Frauenfigur geschaffen, die einen auch nach Ende des Romans lange begleitet. Weil sie so radikal ist, keine Kompromisse kennt und sich trotz allem einen wunderbaren Galgenhumor bewahrt hat.

Im dritten Teil, wieder zwei Jahre später, ist aus Juli – oder Jules – plötzlich eine Julia geworden, die mit ihrem erfolgreichen Freund Thilo am Zürichsee lebt. Könnte doch nicht schöner sein, oder? Wie falsch das alles ist, verdeutlicht Schumacher auch dadurch, dass sie diesen Teil nicht aus der Ich-Perspektive schildert. Nun scheint Juli sich endgültig verloren zu haben. Sogar den Kontakt zu Bruno, ihrem lebenslangen Verbündeten, hat sie abgebrochen.
Lange glaubt Juli, ihren Selbsthass nur durch Verdrängung unterdrücken zu können. Am Ende erkennt sie, dass sie das Schweigen überwinden muss, um zu heilen.

DIE AKTION

Das „Buch für die Stadt“ ist eine Literaturaktion von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Jury bildeten Bettina Fischer (Literaturhaus Köln), Hildegund Laaff (Lengfeld’sche Buchhandlung), Martin Oehlen (Literaturblog „Bücher-Atlas“) und Anne Burgmer („Kölner Stadt-Anzeiger“).

Die Sonderausgabe des Romans ist im August im dtv Verlag erschienen (14 Euro). Vom 15. bis 22. November wird es eine Aktionswoche in Köln und der gesamten Region geben. Die Auftaktveranstaltung mit Claudia Schumacher findet am Samstag, 15. November, 19.30 Uhr, im Schauspiel Köln statt. Sobald der Ticketverkauf gestartet ist, geben wir es hier bekannt. Unterstützt wird die Initiative vom Unternehmen JTI. (ksta)

Auftaktveranstaltung zum Buch für die Stadt - "Liebe ist gewaltig" von Claudia Schumacher

Sa. 15.11.2025 – 19:30 Uhr
Ort: Schauspiel Köln
Depot 1
Carlswerk Schanzenstraße 6-20

51063 Köln

Der VVK startet in Kürze.

Der Roman

Juli wächst in einer Vorzeigefamilie auf. Doch in der Kleinstadtvilla herrscht das Grauen. Der Vater ist ein Tyrann, prügelt sie und seine Frau. Juli wird älter, fordert ein Ende der Gewalt, deren Realität von der Mutter vehement abgestritten wird. Wie kann man sich befreien, wenn man weder den Eltern noch den eigenen Erinnerungen traut? Die Befreiung gerät zum Feldzug – gegen die Eltern und das eigene Ich. Drei Jahrzehnte folgen wir Juli, die mit aller Macht versucht, die Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen. Ein eindringlicher Roman über Verletzungen und eine mögliche Heilung, voller Originalität und Wärme.

Veranstaltungen

  • 22 November @ 15:30 - 16:30

    FAMILIE(N) EHRE: Zwischen Schein und Sein

    at Gemeinschaftsraum im Mehrgenerationenwohnhaus

    In einer Mischung aus Lesung und Spielszenen nähern wir uns der Familie Ehre, hinter deren Fassade vieles anders ist, als es nach aussen gezeigt und gelebt wird. Wir folgen den Erinnerungen von J. und begleiten ihren Versuch, die häuslichen Gewalterfahrungen hinter sich zu lassen. Der Eintritt ist...

  • 21 November @ 17:00 - 19:00

    Lesung mit Expertinnen-Talk und Kunst

    at Bürgerzentrum Finkenberg

    Zwei Personen lesen ausgewählte Abschnitte aus dem Buch vor. Dazu gibt es einen grafischen Überblick über die im Buch relevanten Menschen. Drei Expertinnen aus dem Bereich der Hilfe für Familien, Frauen und Paare werden ihre Gedanken zu den ausgewählten Aspekten beisteuern. Der Talk wird moderi...

  • 20 November @ 19:30 - 22:00

    Lesung mit Musik – Liebe ist gewaltig

    at Christuskirche – Stadtkirche für Leverkusen

    Detlev Prößdorf stellt mit dem Percussions-Ensemble “Schlagsahne” das diesjährige “Buch für die Stadt” von Claudia Schumacher vor. Detlev Prößdorf als Leser wird in die Thematik von “Liebe ist gewaltig” einführen und ausgewählte Passagen lesen. Das Percussions-Ens...

  • 20 November @ 18:30 - 20:30

    Liebe ist gewalt-tätig

    at Bibliothek der Stadt Troisdorf

    AsF und das Troisdorfer Aktionsbündnis Demokratie überparteilich lädt zusammen mit dem Frauenhaus Troisdorf und der Beratungsstelle “Frauen helfen Frauen” zur Lesung in die Stadtbibliothek ein. Ursula Gliss-Dekker und Regine Mörth lesen ausgewählte Passagen aus dem Buch “Liebe...

  • 18 November @ 19:30 - 21:00

    “Liebe ist gewaltig” – Im Gespräch zum “Buch für die Stadt” in der Bücherstube Brauweiler

    at Bücherstube Brauweiler

    “Liebe ist gewaltig” von Claudia Schumacher In diesem Buch ist die Familie kein heiler Ort von Zuwendung und gegenseitiger Anerkennung, sondern bestimmt durch die toxische Männlichkeit des „Familienoberhaupts“, unter dessen Gewalt alle Familienmitglieder auf unterschiedliche Weise l...

  • 18 November @ 19:00 - 20:30

    Buch für die Stadt 2025 Claudia Schumacher liest aus ihrem Roman “Liebe ist gewaltig”

    at Stadtbücherei Bergisch Gladbach

    „Liebe ist gewaltig“ von Claudia Schumacher ist das diesjährige „Buch für die Stadt“ und steht im Zentrum der Aktionswoche in Köln sowie der Region. Mit Unterstützung der Gleichstellungsstelle Bergisch Gladbach und dem Runden Tisch keine Gewalt gegen Frauen konnte die Stadtbücherei die ...

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