Die 1990er Jahre werden in der Rückschau von vielen Deutschen zum sorglosen Jahrzehnt verklärt. Der Kalte Krieg war vorbei, zu Techno und Eurodance tanzte man durch eine Welt, die einfacher und glücklicher schien. Fatma Aydemir kann diese Euphorie nicht teilen. Denn dieses Jahrzehnt ist nicht nur von Hedonismus und Aufbruchsstimmung geprägt, sondern auch von den Ausschreitungen und schrecklichen Anschlägen in Mölln, Solingen und Hoyerswerda. Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund fürchteten um ihr Leben. Ihren zweiten Roman lässt Aydemir daher ganz bewusst am Ende dieses Jahrzehnts spielen.
Das Gefühl, nicht dazuzugehören, kennt Familie Yilmaz aber nicht erst seit den rechten Gewalttaten. Die Arbeitskraft von Vater Hüseyin war erwünscht, die Kultur, Sprache, Träume und Wünsche der Familie hingegen nicht.
Der Tod des Vaters ist Ausgangspunkt des Romans, die Familie reist auf unterschiedlichen Wegen aus Deutschland an. Weil die Beerdigung bald erfolgen muss, drängt die Zeit. Es sind sehr unterschiedliche Charaktere, die da aufeinandertreffen – oder vielleicht besser prallen.
Das Trauma der Heimatlosigkeit
Mutter Emine wurde nie heimisch in Deutschland. Ihre kurdische Herkunft verschwiegen sie und Hüseyin sogar den Kindern. Nach dem Militärdienst hatte er seiner Frau verboten, Kurdisch zu sprechen. „Hüseyin hatte dir erst deine Muttersprache genommen und dich dann in ein Land gebracht, in dem du gar keine Sprache mehr hattest. Es fühlt sich an, als habe er dich verraten.“ Jeden Tag hat sie alles getan, um die Familie zusammenzuhalten. Dank oder Verständnis bringen sie ihr dafür nach ihrem Empfinden aber nicht entgegen. Die Brüche in ihrer Biografie verschweigt sie. Warum immer alle davon sprechen, glücklich sein zu wollen, versteht sie nicht. Sie will nicht hinterfragen, ob auch ein anderes Leben möglich gewesen wäre: „Würdest du damit anfangen, würde auch noch der letzte Strick reißen, der dich an deinem Dasein hält, und du würdest den Boden unter den Füßen verlieren, hättest nichts mehr, an dem du dich festhalten könntest.“
Das Trauma der Heimatlosigkeit haben die Eltern an ihre Kinder vererbt. Da ist die älteste Tochter Sevda, die die Eltern bei ihrem Umzug nach Deutschland zunächst bei den Großeltern ließen und die diesen Verlust ihres Urvertrauens nie überwunden hat. Benannt wurde sie, so sagte man ihr, nach einer älteren Schwester, die im Alter von einem Jahr starb. Zur Schule durfte sie nicht gehen, sie heiratete früh, bekam zwei Kinder. Nun hat sie sich zur Restaurantbesitzerin hochgearbeitet, aber ihre Tochter Bahar, die die zweite Klasse besucht, muss ihre Entschuldigung selbst schreiben, weil sie das schon besser kann als die Mutter.
Ein Roman, der nachwirkt
Sohn Hakan schlägt sich mit halbseidenen Deals durchs Leben und versucht, seine Männlichkeit durch teure Autos unter Beweis zu stellen. Tochter Peri studiert Germanistik in Frankfurt, haut ihrer Mutter feministische Zitate von Simone de Beauvoir und Judith Butler um die Ohren und weiß doch nicht, was sie vom Leben erwartet.
Und der jüngste Sohn Ümit versucht zu verbergen, wie unglücklich er in seinen Schulfreund Jonas verliebt ist.
Im islamischen Glauben ist der Dschinn ein Lebewesen, das gemeinsam mit den Menschen die Welt bevölkert, aber unsichtbar bleibt. Es sind die Geister der Vergangenheit, die alle Familienmitglieder auch in der Gegenwart verfolgen. Fatma Aydemir stellt in jedem Abschnitt eine Person in den Mittelpunkt der Erzählung. Aus den sechs Passagen setzt sich das Puzzle einer Familie zusammen, die nie gelernt hat, über ihre Ängste und Wünsche zu sprechen und deren Sprachlosigkeit dazu führt, dass die Wunden, die sie einander und die die Gesellschaft ihnen zugefügt hat, nicht heilen. Fatma Aydemir findet für jedes Familienmitglied einen eigenen, passenden Ton, die Geschichten der Kinder werden von denen der Eltern eingerahmt.
„Dschinns“ ist ein wuchtiger Familien- und Gesellschaftsroman, der lange nachwirkt und bis in unsere Gegenwart hinein strahlt. Die bösen Geister der Vergangenheit sind eben nicht vertrieben, wie die vielen rechtsextremen Anschläge in den vergangenen Jahren und das Erstarken der AfD schmerzhaft unter Beweis stellen.
DIE AKTION
Das Buch für die Stadt ist eine Literaturaktion von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Jury bildeten Bettina Fischer (Literaturhaus Köln), Hildegund Laaff (Lengfeld’sche Buchhandlung), Martin Oehlen (Literaturblog „Bücher-Atlas“) und Anne Burgmer („Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Sonderausgabe des Romans ist im dtv Verlag erschienen.
Vom 10. bis 17. November wird es eine Aktionswoche in Köln und der gesamten Region geben. Die Matinee mit Fatma Aydemir zum Auftakt findet am Sonntag, 10. November, im Schauspiel Köln statt. Wer in der Aktionswoche eine Veranstaltung beisteuern möchte, ist sehr willkommen. Unterstützt wird die Initiative vom Unternehmen JTI. (ksta)