Wie wir werden, wer wir sind
Jackie Thomaes großartiger Roman "Brüder" ist das Buch für die Stadt und die Region 2021
von Anne Burgmer
Mick und Gabriel haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Mick ist ein Hedonist, der seine Ausbildung abbricht, in den Tag hinein lebt, sich in den 90er Jahren durch die aufregende Partyszene Berlins treiben lässt. Seine Freundin Delia verzeiht seine Eskapaden, lässt unkommentiert, wenn er nächtelang durch Clubs und fremde Betten zieht.
Gabriel ist das genaue Gegenteil. Zielstrebig, diszipliniert, reflektiert. Deutschland wird ihm irgendwann fremd und zu klein, er geht nach London, wird ein berühmter Architekt. Seine Frau Fleur, die ihm anfangs wenig Beachtung schenkt, erobert er ähnlich zielstrebig und konsequent als wäre sie ein berufliches Projekt. Nach der Hochzeit lebt er mit ihr und dem gemeinsamen Sohn Albert in einem schicken Haus, führt ein Leben, von dem viele nur träumen können.
Doch Mick und Gabriel, die sich nicht kennen und so unterschiedlich sind, wie man es nur sein kann, haben eine unsichtbare Verbindung, von der sie nichts wissen. Beide wurden 1970 in Ostdeutschland geboren, der eine in Ost-Berlin, der andere in Leipzig. Beide wuchsen bei alleinziehenden Müttern auf. Beide haben denselben Vater. Idris kam als Student aus dem Senegal nach Deutschland. Mit einer guten Ausbildung in der Tasche verließ er die DDR irgendwann wieder. Und ließ zwei Frauen und deren Söhne zurück.
“Brüder” hat Jackie Thomae ihren Roman schlicht genannt, der in diesem Jahr das Buch für die Stadt und die Region ist. Mit viel feinem Humor und frei von Pathos jongliert sie darin in atemberaubender Weise mit so vielen Themen, dass es einem beim Lesen schwindelig werden könnte, hätte sie nicht alle Fäden zu jedem Zeitpunkt fest in der Hand. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sehen sich immer auch mit der Frage konfrontiert, wie viel Autobiografisches den Weg in ihre Fiktion gefunden hat. So geht es auch Jackie Thomae. 1972 wurde sie in Halle geboren, wuchs in Leipzig auf, seit 1989 lebt sie in Berlin. Ihren Vater, der aus Guinea stammt und in Deutschland lebt, lernte sie erst 2014 kennen.